Geschichte
Die Geschichte des Louise-Dittmar-Haus
- Gründung am 09.10.1959
- Einweihung des Louise-Dittmar-Haus am 14.11.1959
- Erweiterung der Einrichtung (Wohnbereich für Menschen mit Demenz): 1986
- Renovierung und Modernisierung im Wohnbereich A/B: 2015/16
Eine bewegte Vergangenheit
Am 9.10.1959 begann für eine Gruppe russischer Emigranten ein neues Leben – ein Leben in einer neuen, ihnen noch unbekannten Stadt. Vor 50 Jahren betraten sie als erste Bewohnerinnen und Bewohner das eigens für sie erbaute Altenwohnheim, in dem sie nach vielen Entbehrungen und teils jahrzehntelanger Trennung von ihrer Heimat ein neues Zuhause fanden. Die offizielle Einweihung erfolgte am 14. November 1959.
Eine größere Gruppe von ihnen lebte bis dahin in einer Kaserne im niedersächsischen Varel bei Oldenburg, einige kamen aus Oldenburg und Braunschweig sowie den Landkreisen Soltau und Friesland. Sie waren in der Zeit zwischen dem 1. Weltkrieg und 1945 nach Deutschland emigriert. Es handelte sich um Angehörige der Weißrussischen Armee und Zivilisten, die während und nach der Revolution aus Russland flohen, und um Soldaten der Wlassow-Armee, die im 2. Weltkrieg auf deutscher Seite kämpfte und deren Soldaten nicht wieder in ihre Heimat zurück kehren konnten.
Darmstadt. Geburtsort der letzten Zarin.
Nach dem die als Durchgangslager für Vertriebene und Emigranten genutzten Gebäude in Varel wieder ihrer eigentlichen Bestimmung als Marinekaserne zugeführt werden sollten, suchte man nach einer Bleibe für die Bewohnerinnen und Bewohner, von denen einige mittlerweile alt geworden waren. So entschloss man sich, ein Altenheim zu bauen und fand in Darmstadt, dem Geburtsort der letzten Zarin Alexandra, Tochter des Großherzogs von Hessen-Darmstadt, eine Stadt, die für diesen Zweck Land zur Verfügung stellte. Der UNO-Hochkommissar, unter dessen Schutz die Emigranten standen, und einige andere Geldgeber finanzierten das Projekt, das unter Leitung des Evangelischen Hilfswerks der Evangelischen Kirche Hessen Nassau (EKHN) erbaut und betrieben wurde.
Zu dieser Zeit lag das Grundstück, auf dem die bis zur Jahrtausendwende als „Altenheim Darmstadt“ bekannte Einrichtung errichtet wurde, am Stadtrand Bessungens. Die Landskronstraße vor der Baustelle, damals hieß sie nicht Rüdesheimer Straße, war noch nicht befestigt und vom Dach der Baustelle blickte man auf Äcker und Felder und im Süden bis an den Rand des Waldes. Die ersten Neubauten der Siedlungen standen noch in einiger Entfernung. Es entstanden zwei zusammenhängende Gebäude mit insgesamt 110 Betten. In den vorhandenen Doppelzimmern konnten 15 Ehepaare untergebracht werden.
1959 – Umzug ins neue Heim.
Am 9.10.1959 bezogen 83 Bewohner, darunter 38 Frauen und 45 Männer, das Altenwohnheim. Sie wurden von dem Bevollmächtigten des Evangelischen Hilfswerkes und dem Heimleiter des Altenwohnheimes empfangen. Einige Dokumente berichten über die Planung der Reise und des Umzugs und verdeutlichen den Wandel in den vergangenen Jahren. Demnach begann die Reise am 9.10.1959 um 6.31 Uhr in der Früh und laut Plan traf die Gruppe pünktlich um 15.11 Uhr in Darmstadt ein. Die beiden Sonderwagons der Deutschen Bundesbahn wurden im Darmstädter Hauptbahnhof abgehängt und von hier aus übernahmen Sanitätswagen und zwei Omnibusse der HEAG den „Transport“ – so das damalige „Amtschreiben“ – zum Heim.
Die Ausstattung, die die neuen Bewohnerinnen und Bewohner erwartete, lag wohl deutlich über den damaligen Verhältnissen. Denn im Schreiben vom 21. September 1959 verwies der Leiter des Altenwohnheims Darmstadt darauf, „… dass elektrische Kocher, Petroleumkocher u.ä. nicht gebraucht werden …“, da genügend Teeküchen im Heim vorhanden sind. Auch auf das Mitbringen eigener Besen und Eimer sollte verzichtet werden, da diese Utensilien das Heim zur Verfügung stellt.
Allerdings – im Gegensatz zur heutigen Praxis – sollten die zukünftigen Bewohner keine Möbelstücke wie Sessel, Schränke, Tische oder Stühle mitbringen, da die Zimmer komplett ausgestattet seien und auch keine Möglichkeit bestünde, kleinere Accessoires wie Holzkästen mit Inhalt aufzustellen. Das „große Gepäck“ sollte wirklich nur auf gute und notwendige Dinge beschränkt werden: „… z.B. wäre Geschirr, Kasserollen, Pfannen, Wasserkessel auf etwa 1 Stück zu reduzieren“ und auch an Textilien sollte nur notwendige, gute Bekleidung mitgenommen werden. Immerhin: Das Mitbringen einer kleinen Zierdecke u.ä., eine eigene Decke oder auch ein Kopfkissen wird „erlaubt“.
Doch schon bald nach dem Eintreffen legte sich die fieberhafte Spannung der Bewohnerinnen und Bewohner und wich einem zufriedenen Gefühl des Geborgenseins in diesem eigens für sie erbautem und eingerichtetem Heim. Die ersten Wochen waren geprägt von den Vorbereitungen der offiziellen Einweihungsfeier und dem Einrichten und Ausgestalten der Wohnräume. Trotz der Hinweise, nur das Notwendigste mitzubringen, mussten sich die Bewohner von vielen Altertümern trennen. Nach und nach kehrte Ruhe ein und der Umzug vom Land in die Stadt war vollzogen.
Pfarrer Walter Rathgeber begrüßt die Gäste.
Am 10. und 11. Oktober 1959 weihte der damalige Erzbischof der orthodoxen Kirche in Deutschland, Bischof Alexander, im Rahmen einer Messe das Altenheim für heimatlose Ausländer russisch-orthodoxer Religion. Messe und Gottesdienste hielten neben ihm der Priester Paul aus Dettingen und der Hauspriester Nikodim Kofanow. Als Vertreterin der Tolstoy-Foundation, die an der Finanzierung des Altenwohnheimes beteiligt war, nahm die Fürstin Dondoukoff-Jziedinoff an den Feierlichkeiten teil. Die offizielle Einweihungsfeier erfolgte am 14. November 1959. Nach der Begrüßung durch den Bevollmächtigten des Evangelischen Hilfswerks, Herrn Pfarrer Walter Rathgeber, richteten der Kirchenpräsident, Vertreter des Landes Hessen, der Stadt Darmstadt, der Tolstoy-Foundation, des Weltrates der Kirchen und der Architekt Grußworte an die geladenen Gäste.
Am gleichen Tag trat zum ersten Mal das Kuratorium, bestehend aus Vertretern der Tolstoy-Foundation, des Weltrates der Kirchen, dem Erzbischof Alexander, Vertretern der Hauptgeschäftsstelle der Inneren-Mission und des Hilfswerks in Deutschland, dem Bevollmächtigten , dem Geschäftsführer und dem Justitiar des Hilfswerks in Hessen und Nassau und dem Leiter des Wohnheims, für das Altenwohnheim der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau zusammen.
In den folgenden Monaten genossen die Bewohner/-innen die neue Heimat und das eigens für sie errichtete Haus. Die meisten unter ihnen fanden nach langen Jahren der Entsagungen und des Verzichts Behaglichkeit und Wohnkultur. In der künstlerisch wertvoll eingerichteten Hauskapelle wurden entsprechend der russisch-orthodoxen Religion Messen und Gottesdienste gehalten, an denen zuweilen die gesamte russisch-orthodoxe Gemeinde Darmstadts teilnahm. Einmal im Monat stand den Bewohner(inne)n ein kostenloser Omnibus zur Verfügung, der sie zu den Gottesdiensten in der russisch-orthodoxen Kapelle auf die Mathildenhöhe brachte.
Borschtsch, Sirniki, Solianke, Rassolnik und vieles mehr.
Doch das war nicht alles, was den Menschen im Haus das Leben und vor allem die Trennung von der Heimat erleichterte. So ging die Küche auf die Herkunft der Bewohner ein und servierte Borschtsch, Sirniki, Buchweizengrütze, Solianke, Rassolnik, Vinaigrette und vieles mehr aus der heimischen Küche der Emigranten. In einer kleinen Bibliothek fanden Interessierte russische Literatur und über die Lautsprecher klangen Schallplatten mit bekannten Stücken russischer Volkschöre. Die Stadt Darmstadt lud russische Schauspieler ein und zu Weihnachten konnte jeder Bewohnerin und jedem Bewohner dank einer großzügigen Spende eines Darmstädter Kaufhauses ein kleines Geschenk mit gewünschter Kleidung überreicht werden.
Der folgende Absatz aus dem Tätigkeitsbericht vom 1.10.1959 bis zum 31.3.1960 soll zeigen, wie es damals zuging:
„Ein im Kellerraum befindlicher Werkraum wird z.Zt. entsprechend vorhandenen Materials bescheiden eingerichtet, um Interessenten die Möglichkeit der Beschäftigung mit Bastelarbeiten, Weben und Werken zu geben. Ein Schuhmacher besorgt in der notdürftig eingerichteten Schusterwerkstatt mit zur Verfügung gestelltem Material die Schuhreparaturen für seine Mitinsassen, während ein serbischer Professor mittels eigener Matrizen und Vervielfältigungsapparat eine serbische Zeitung für seine Landsleute herausgibt. Einer der Russen hilft regelmäßig im Pfortendienst, einige Frauen und Männer beschäftigen sich zeitweise mit leichten Haus- und Küchenarbeiten. Eine Insassin schneidert und ist vollbeschäftigt. Die Intellektuellen lesen freudig die kostenlos zur Verfügung stehenden Tageszeitungen und erfreuen sich der kleinen russischen Bibliothek, die von 2 Bibliothekaren in eigener Regie verwaltet wird. Im übrigen interessiert die neuen Darmstädter Bürger das Leben der Großstadt, das sie bei Spaziergängen in die nähere und weitere Umgebung kennen lernen, wobei zu hoffen ist, dass bald für die Spaziergänger die Straßen und Wege des Darmstädter Südens seitens der Stadtverwaltung geebnet werden. Ein Lesezimmer und 3 Tagesräume mit modernen Möbeln stehen für besinnliche Stunden zur Verfügung. Dort befinden sich auch 2 Fernsehgeräte, die – von der Stadtverwaltung und vom Hessischen Rundfunk gespendet – den begehrten Blick nach draußen vermitteln.“